Piets Roggenkamps sehnlicher Wunsch nach Schnee
2050 - Kindheitserinnerungen einer geliebten Großmutter:
„Oma, wie war es in deiner Kindheit, als es noch Schnee gab? Ich träume immer wieder davon und kann es mir einfach nicht so richtig vorstellen.“ Mit sehnsuchtsvollem Blick pickte er sein letztes Stück Pfannkuchen auf die Gabel.
„Es war wundervoll“, begann Großmutter zu erzählen. „Nach der Schule haben wir unsere Schulranzen in die Ecke geworfen, uns dick angezogen, mit Schneehosen, gefütterten Jacken und Stiefeln, Pudelmützen und Fäustlingen, und sind raus in die kalte Landschaft. Deine Großtante und ich haben uns mit unseren Freunden auf Hellmichs Hügel getroffen und sind den ganzen Nachmittag mit unseren Schlitten gerodelt, wobei uns die beiden Kühe, Elke und Gerda, neugierig zusahen. Der Winter war lang, streng und so hart, sodass Vögel und Rehe kaum noch etwas zu fressen fanden. Dann haben wir Vogelfutter im Garten ausgelegt und vom Bauern ein paar Ballen Heu bekommen und im nahegelegenen Wald an die Tiere verfüttert. Wir waren so verrückt nach Eis und Schnee, dass wir sogar in den frühen Morgenstunden aufgestanden und auf dem zugefrorenen Gartenteich hinter unserem Haus noch vor Schulbeginn Schlittschuh gelaufen sind. Ich erinnere mich noch, dass meine Großmutter uns eines Morgens dabei erwischte, und wir haben furchtbaren Ärger bekommen“, sinnierte sie vor sich hin und lächelte in sich hinein, als ob sie diese gute alte Zeit vermisse.

Im Jahre 1830 / Die Gerichtsverhandlung:
„Ich verurteile die Angeklagten wegen Brandstiftung und versuchten Mordes an Professor Balduin Kiesekraut zu fünfzehn Jahren Haft. Außerdem ist es dem Bengel Klüppel, der keine vollständigen Sätze bilden kann, sowie seiner Bande und sämtlichen Familienmitgliedern untersagt, sich bis auf zweihundert Meter sämtlichen Mitgliedern der Familien Kiesekraut und Müller zu nähern. Sollten sich diese nicht daran halten, droht ihnen ebenfalls eine Haftstrafe!“
Die Zuschauer waren verblüfft. Sie hatten den Richter für einen verschlafenen, desinteressierten Mann gehalten, dem seine Manieren und vor allem seine Kleiderordnung völlig egal waren. Tatsächlich aber hatte er einen messerscharfen Verstand, nichts entging seinen Ohren, und er hatte die Fähigkeit, jede noch so kleine Regung eines Menschen zu analysieren und in treffsichere Ergebnisse zu verarbeiten.

Im Jahre 1830 / Düstere Zukunftsaussichten:
Da Großvater bereits das Haus verlassen hatte, um seinen Schreinerarbeiten in der Kirche nachzugehen, setzte sich Ferdinand an den Küchentisch, rührte in einer Schüssel mit Haferbrei und starrte entsetzt auf den Artikel des Rullinger Tageblattes, den er auf den Küchentisch vor sich neben die Briefe gelegt hatte. Fassungslos betrachtete er die Zeichnungen, die darin abgebildet waren. Die erste zeigte eine riesige Monsterwelle, die eine ganze Stadt überspülte und mit sich riss. Seine Augen füllten sich mit Tränen, als er zwei weitere Bilder betrachtete, auf denen jeweils ein Bär abgebildet war. Der kleinere von beiden hatte hellbraunes Fell und einen dicken, flauschigen Flaum in den Ohren. Das Tier hatte sich aus lauter Angst vor dem Feuer, das ihn ausweglos umzingelt hatte, auf einen Baum zu retten versucht, nicht ahnend, dass es sich seine kleinen Füßchen schmerzhaft an dem orangerot schwelenden Stamm verbrennen würde. Der große Bär war ein Eisbär. Ferdinand hatte solch ein Tier mal auf einem Ölgemälde gesehen, das ein befreundeter Maler seines Großonkels gepinselt hatte. Der Eisbär auf dem Foto war völlig abgemagert und balancierte auf einer dünnen Eisscholle; die schiere Panik stand ihm ins Gesicht geschrieben.
Noch nie zuvor hatte Ferdinand so etwas Furchtbares zu Gesicht bekommen. Wie hatte der Maler des Rullinger Tageblattes im Jahr 2032 seine Zeichnungen denn derart real darstellen können? Die Bilder zeigten keinen einzigen Farb- oder Pinselstrich, und es schien Ferdinand, als hätte er sie in der Wirklichkeit gesehen und sie hätten sich direkt in die Netzhaut seiner Augen eingebrannt.

Ein Brief aus der Zukunft:
𝓘𝓬𝓱 𝓫𝓲𝓷 𝓟𝓲𝓮𝓽 𝓡𝓸𝓰𝓰𝓮𝓷𝓴𝓪𝓶𝓹, 𝓫𝓪𝓵𝓭 𝔃𝔀ö𝓵𝓯 𝓙𝓪𝓱𝓻𝓮 𝓪𝓵𝓽 𝓾𝓷𝓭 𝔀𝓸𝓱𝓷𝓮 𝓲𝓶 𝓙𝓪𝓱𝓻 2050 𝓪𝓶 𝔃𝓮𝓱𝓷𝓽𝓮𝓷 𝓜ä𝓻𝔃 𝓲𝓷 𝓡𝓾𝓵𝓵𝓲𝓷𝓰𝓮𝓷 (𝓼𝓸 𝓱𝓮𝓲ß𝓽 𝔃𝓾 𝓾𝓷𝓼𝓮𝓻𝓮𝓻 𝓩𝓮𝓲𝓽 𝓭𝓮𝓻 𝓞𝓻𝓽, 𝓲𝓷 𝓭𝓮𝓶 𝓓𝓾 𝔀𝓸𝓱𝓷𝓼𝓽, 𝓼𝓪𝓰𝓽 𝓶𝓮𝓲𝓷𝓮 𝓖𝓻𝓸ß𝓶𝓾𝓽𝓽𝓮𝓻).
𝓔𝓼 𝓲𝓼𝓽 𝓼𝓮𝓱𝓻 𝔀𝓪𝓻𝓶. 𝓩𝓾𝓻𝔃𝓮𝓲𝓽 𝓵𝓲𝓮𝓰𝓽 𝓭𝓲𝓮 𝓣𝓮𝓶𝓹𝓮𝓻𝓪𝓽𝓾𝓻 𝓫𝓮𝓲 𝓿𝓲𝓮𝓻𝔃𝓲𝓰 𝓖𝓻𝓪𝓭 𝓲𝓶 𝓢𝓬𝓱𝓪𝓽𝓽𝓮𝓷. 𝓓𝓲𝓮 𝓰𝓵𝓸𝓫𝓪𝓵𝓮 𝓔𝓻𝓭𝓮𝓻𝔀ä𝓻𝓶𝓾𝓷𝓰 𝓲𝓼𝓽 𝓭𝓪𝓻𝓪𝓷 𝓼𝓬𝓱𝓾𝓵𝓭, 𝓭𝓪𝓼𝓼 𝓮𝓼 𝓼𝓸 𝔀𝓪𝓻𝓶 𝓲𝓼𝓽. 𝓦𝓲𝓮 𝓲𝓼𝓽 𝓭𝓪𝓼 𝓦𝓮𝓽𝓽𝓮𝓻 𝓫𝓮𝓲 𝓓𝓲𝓻, 𝓾𝓷𝓭 𝔀𝓲𝓮
𝓴𝓸𝓷𝓷𝓽𝓮𝓼𝓽 𝓓𝓾 𝓾𝓷𝓼 𝓓𝓮𝓲𝓷𝓮 𝓝𝓪𝓬𝓱𝓻𝓲𝓬𝓱𝓽𝓮𝓷 𝓼𝓬𝓱𝓲𝓬𝓴𝓮𝓷? 𝓦𝓲𝓻 𝓱𝓪𝓫𝓮𝓷 𝓼𝓲𝓮 𝓶𝓲𝓽 𝓭𝓮𝓶 𝓦ä𝓼𝓬𝓱𝓮𝓽𝓻𝓸𝓬𝓴𝓷𝓮𝓻 𝓰𝓮𝓼𝓬𝓱𝓲𝓬𝓴𝓽.
𝓥𝓲𝓮𝓵𝓮 𝓖𝓻üß𝓮 𝓿𝓸𝓷 𝓟𝓲𝓮𝓽, 𝓖𝓻𝓸ß𝓶𝓾𝓽𝓽𝓮𝓻 𝓜𝓪𝓰𝓰𝓲𝓮 𝓾𝓷𝓭 𝓑𝓸𝓭𝓸
„Ja, da laust mich doch der Affe!“, sagte Manfred und nahm mit zittriger Hand das Blatt vom Boden auf. Ungläubig starrte er auf das Geschriebene.
„Der Absender ist so alt wie wir und wohnt am selben Ort zweihundertzwanzig Jahre später? Und er schreibt … kann das wirklich wahr sein, dass es im März vierzig Grad heiß ist? Es ist doch Winter! Das versteh‘ ich nicht. Und was zum Henker ist ein Wäschetrockner?“
„Keine Ahnung“, antwortete Ferdinand nachdenklich und legte seine Stirn in Falten. „Davon hab‘ ich noch nie gehört. Denkst du, es soll irgendeinen Sinn haben, dass uns jemand aus der Zukunft schreibt? Was steckt bloß dahinter?“